Am 22. April 1945 verstarb Käthe Kollwitz im Alter von 77 Jahren in Moritzburg bei Dresden. Im „Rüdenhof“, einem Gutshaus am Schloßteich der Moritzburg, fand sie Zuflucht vor dem Krieg und verbrachte dort die letzten Monate vor ihrem Tod.
Zuletzt reichten Augenlicht und Körperkraft nicht mehr aus, um künstlerisch zu arbeiten. Aber der eigene Tod machte ihr keine Angst. So schrieb sie bereits im Dezember 1942, Monate vor der Evakuierung aus Berlin, in ihr Tagebuch: „Tot sein, o ja, das ist mir oft ein guter Gedanke.“
Ihr bewegtes Leben wurde von bedeutenden Zeitenwenden begleitet: Das Kaiserreich, der Erste Weltkrieg, in welchem sie ihren Sohn Peter verlor, die Weimarer Republik, der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg, in dem ihr Enkel Peter (benannt nach dem Onkel) fiel.
Käthe Kollwitz, die den größten Teil Ihres Lebens in Berlin gelebt und gearbeitet hat, hinterließ ein umfangreiches Werk, in dem ein Motiv immer wieder zum Vorschein tritt: die Hand. Die Künstlerin verwendete sie als emotionales Bildelement. In ihren berührenden Werken erzählen die Hände von großen Gefühlen: Nachdenklichkeit, Resignation, Trauer, Verlust und unendliches Leid. Nicht selten verdecken sie das Gesicht und sind übermäßig groß dargestellt – das verleiht den Händen einen besonderen Stellenwert in ihrem Oeuvre und macht sie einprägsam.
Auf dem Jüdischen Friedhof Köln-Bocklemünd befindet sich eine beeindruckende bildhauerische Arbeit von Käthe Kollwitz, bei der das Bildmotiv nur aus „sich fassenden Händen“ besteht. Es handelt sich um das Grabrelief des jüdisches Kaufmanns Franz Levy, der am 18. März 1937 starb. Zu einer Zeit, in der die Künstlerin keine Ausstellungsmöglichkeit mehr im nationalsozialistischen Deutschland hatte, erhielt sie von der Witwe Doris Levy den Auftrag, das Grabrelief ihres verstorbenen Mannes zu gestalten. Für das eigene Familiengrab hatte Kollwitz kurz zuvor das Bronzerelief „Ruht im Frieden seiner Hände“ geschaffen.
Nun gestaltete Käthe Kollwitz ein schlichtes Grabmal aus weißem Marmor, von dessen glatter Oberfläche „sich fassende Hände“ eindrücklich abheben. Über den Auftrag und das Motiv schrieb Kollwitz:
„Eine Jüdin, Frau Levy aus Köln, will von mir einen Grabsteinarbeit für ihren verstorbenen Mann machen lassen. Nur Hände – vier sich fassende Hände – da jede andere menschliche Darstellung auf jüdischen Grabsteinen verboten ist. Ich muss die Arbeit im Juli machen. Bursch in Hamburg führt sie aus.“ (Käthe Kollwitz, Tagebuch im Juni 1938)
Der Grabstein mit Relief für Franz Levy auf dem Jüdischen Friedhof Köln-Bocklemünd, 1938, ausgeführt in Marmor von dem Hamburger Steinmetz Friedrich Bursch nach dem Modell der Künstlerin.
Da Hände im Werk von Käthe Kollwitz eine bedeutsame Rolle spielen, lässt sich ihre Motivwahl nicht allein mit den Vorgaben der jüdischen Tradition begründen. Die Hände symbolisieren die Liebe zweier Eheleute, sie zeigen einen Moment des Haltgebens und Abschiednehmens. Ihrer Auftraggeberin schrieb Kollwitz später:
„Ich habe sehr gern daran gearbeitet und gehofft, daß das unlösbare Zusammengehörigkeitsgefühl wirklich ausgedrückt ist.“ (Käthe Kollwitz, Brief an Doris Levy, 30. Juni 1939)
Die Künstlerin näherte sich in mehreren zeichnerischen Versionen der endgültigen Fassung und fertigte zunächst ein Ton-, später ein Gipsmodell an.
Kupferstichkabinett. (2021-11-02). NG
27/64-108: Einander ergreifende Hände.
Studie zum Grabmal Franz Levy.
abgerufen unter https://nat.museum-digital.de/object/582243
Kupferstichkabinett. (2021-11-02). NG
27/64-18: Einander ergreifende Hände.
Studie zum Grabmal Franz Levy.
abgerufen unter https://smb.museum-digital.de/object/93548
Angesichts der Tatsache, dass das Grabmal für ein jüdisches Ehepaar entstanden ist, das unter dem NS-Regime verfolgt wurde, kann das Motiv der „sich fassenden Hände“ sicherlich auch als ein Zeichen von Kollwitz’ Solidarität mit der Familie Levy aufgefasst werden. Im Dezember 1938 schrieb sie Doris Levy mit Blick auf das Pogrom vom 9. November:
„Ich habe wiederholt an Sie gedacht, liebe Frau Levy, nicht nur zur Grabstätte gingen meine Gedanken, sondern zu Ihnen. Glauben Sie mir, wir litten alle gemeinsam und tief. Schmerz und Scham fühlen wir. Und Empörung.“ (Käthe Kollwitz, Brief an Doris Levy, 15. Dezember 1938)
Franz Levy war ehemaliges Vorstandsmitglied des Kölner Warenhauskonzerns Leonhard Tietz AG (seit 1933 Westdeutsche Kaufhof AG). Aufgrund seiner jüdischen Herkunft und wachsender Judenhetze musste er 1934 aus dem Vorstand ausscheiden. Doris Levy und die Kinder konnten nach Großbritannien emigrieren. Dort verstarb Doris Levy im Jahr 1981.