Stadtteilmütter in Neukölln
Die Stadtteilmütter in Neukölln (Diakoniewerk Simeon gGmbH) sind Migrantinnen, die nach einer 6-monatigen Basisqualifizierung im Rahmen ihrer Arbeit Familien zu Themen der frühkindlichen Entwicklung, Bildung und Gesundheit besuchen und informieren. Als Akteurinnen in ihrem Bezirk sind sie Teil der sozialen Integration. Themen wie gesellschaftliche und politische Teilhabe sind damit auch Teil ihrer vielfältigen Aufgaben, wie die Hausbesuche und die Begleitung von Familien in ihrem Sozialraum und zu den Hilfsstrukturen des Bezirkes. Sie bringen ihre eigenen Erfahrungen mit, als Mütter und als Migrantinnen, die ebenfalls mit den vielfältigen Herausforderungen des Alltags, der Sprache und oft auch mit Vorurteilen zu kämpfen haben.
Seit Ende 2021 wird in der Grafikwerkstatt in der Karlsgartenstraße 6 in Neukölln ein Qualifizierungskurs durchgeführt, in dem Stadtteilmütter grafische Verfahren wie den Linolschnitt erlernen und anhand von Bildern politische Themen diskutieren, die für ihr Leben und das Leben von migrantischen Frauen und Mädchen relevant sind. Auf diese Weise treffen Kunst, Politik, Bildung und Empowerment aufeinander. (Die Ergebnisse dienen als Anregung für Gespräche z.B. im Elterncafé oder hier in dieser Ausstellung.)
Dieses Outreach-Projekt entwickelte sich aus der langjährigen Zusammenarbeit des Museums mit der Künstlerin und Kunstvermittlerin Yili Rojas, die seit vielen Jahren Werke von Käthe Kollwitz in ihre politische Bildungsarbeit einbezieht und Workshops auch im Käthe-Kollwitz-Museum durchführt. Seit zwei Jahren bietet sie u.a. in Neukölln einen Qualifizierungskurs Stadtteilmütter an.
Während der gemeinsamen Vermittlungsarbeit, z.B. regelmäßig am eintrittsfreien Museumssonntag zur Druckwerkstatt, stellten Barbara Antal, Kuratorin für Outreach am Kollwitz-Museum, und Vermittlerin Yili Rojas fest, dass es viele Schnittstellen zwischen den Biografien der Teilnehmerinnen mit den Themen von Käthe Kollwitz gibt. Dadurch hat sich die Idee entwickelt, den Teilnehmerinnen Käthe Kollwitz und ihr Werk vorzustellen – als einen ersten künstlerischen wie politischen Impuls für die eigene kreative Arbeit.
Eine Präsentation der während des Projektes entstandenen Werke wurde am 2. Juni 2022 um 16 Uhr im Vermittlungsraum des Museums in der Fasanenstraße eröffnet.
Politische Themen künstlerisch angehen
Die Künstlerinnen entschieden sich als Gruppe für ein Thema. Die erste Gruppe setzte sich intensiv mit dem Thema Scham auf biografischer, sozialer und kultureller Ebene auseinander. „Ist Scham politisch?“ stellten sie die Frage. Entstanden sind eine Reihe von Bildern und Texten, die die Komplexität des Themas aufzeigen.
Die zweite Gruppe widmete sich dem Nachdenken über Unterdrückung und Widerstand und der Frage, ob diese beiden Elemente die Seiten derselben Medaille sein können. So sehen sie es in ihren eigenen Lebensgeschichten, in denen sie in unterschiedlichem Ausmaß zum Beispiel gegen Patriarchat und Rassismus gekämpft haben. Ihre Erfahrungen sind vielfältig, und durch das Teilen dieser Erfahrungen wollen sie auch andere Frauen stärken.
Ausstellungsgespräch im Käthe-Kollwitz-Museum
Beide Gruppen besuchten das Käthe-Kollwitz-Museum. Barbara Antal leitete das Gespräch mit den Stadtteilmütter in den Räumen der Dauerausstellung. Die Begegnungen waren intensiv und lösten Gefühle der Identifikation, Anerkennung und Bewunderung aus. Sie ließen sich von den Werken einer Künstlerin inspirieren, die ihre Gedanken, Erfahrungen und Gefühle in Bildern ausdrückt hatte und die damit andere bis heute erreicht.
Als Frau ein selbstbestimmtes Leben führen zu dürfen, ist für viele auch heute nicht selbstverständlich. Käthe Kollwitz und auch einige Stadtteilmütter, so wie viele anderen Frauen, mussten diese Selbstbestimmung für sich erkämpfen.
Eines der wichtigen Themen in Kollwitz‘ Werk ist die Mutterschaft, aber auch der Krieg. Für viele der besuchenden Stadtteilmütter sind diese Themen maßgebliche Bestandteile ihres Lebens. Kindeswohl und Kinderschutz sind Themen, über die sie mit betroffenen Frauen sprechen und sie in ihrer Funktion als Beraterinnen zu unterstützen versuchen.
Die Besucherinnen der Ausstellung waren bedrückt, fühlten sich betroffen und fingen an, ihre eigenen Geschichten zu erzählen: wie es war „mit Mutter unter den Küchentisch zu kriechen als die Bomben fielen“. Und fragten sich: „Wie kann eine Mutter ihr Kind allein nach Europa schicken?“ Die Ansichten darüber unterschieden sich auch innerhalb der Gesprächsgruppe stark.
Abschließend zum Ausstellungsbesuch wurde das Gesehene reflektiert. Ein Gespräch über Krieg entfaltete sich. Die aktuelle weltpolitische Lage, die mitgebrachten Biografien, Käthe Kollwitz’ Schicksal und ihr starker Pazifismus boten genügend Gesprächsstoff. Schon vor 100 Jahren plädierte Kollwitz gegen den Krieg. „Wieso wird es von den Männern, die die Kriege führen, nicht gehört? Vielleicht fehlt ihnen die mütterliche Erfahrung, etwas, was Fleisch aus dem eigenen Fleisch ist, zu verlieren“ – beklagten die Frauen. „Und wir haben immer noch nicht genug Macht, ein Veto einzulegen.“
Die Grafikwerkstatt leitet die Künstlerin und Referentin für politische Bildung Yili Rojas, im Rahmen des Demokratie Projekts, gefördert durch die Berliner Landeszentrale für politische Bildung.
Die Ausstellungsgespräche führte Barbara Antal, Kuratorin für Outreach im Käthe-Kollwitz-Museum.
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